Glatte Marmorhaut, schön geschwungen, wachsend ‘gen Himmel. Unschuldig weiß und wie die geöffnete Knospe einer Tulpe vor dem Einbruch der Mittagssonne gewährst du den Himmelstränen etwas Platz in deiner Mitte. Die Umarmung des dunklen Strauchs versteckt dich etwas und lässt deine Existenz in diesem großen, vielfältigen Garten aus bestimmten Winkeln nur erahnen. Die Strahlen der umbrischen Sonne kommen nur schwer an dich ran und steht man direkt vor dir, wird einem der Blick auf die Weinberge und Laubwaldhügel liebevoll verwehrt.
Aber dein Anblick beruhigt mich. Hier kann ich sein, mit allem, was ist. Du fängst mich auf, wie eine Wolke aus Blütenstaub, auf die ich weich falle. Je länger ich dich ansehe, umso rhythmischer räumt mein Körper in sich auf. Der Haufen bestehend aus abgestandenen Gedanken, veralteten Gefühlen und dichtem Lückenfüllerstaub fängt schüchtern an, sich zu bewegen. Deine weiche Marmorhärte gibt mir die Sicherheit, dass du in deiner Form unverändert bleiben wirst, egal, was ich tue oder lasse, egal, in welcher Verfassung ich vor dir stehe. Du siehst mich und der zarte Einschnitt deiner Krone zieht mich noch näher an dich ran.
In meinem Hals formt sich ein Knoten und wandert unaufhaltsam rauf in meinem Kamm. Das Harz verflüssigt sich, läuft meine heißen Wangen runter und richtet sich bei dir ein. Du konservierst meine Tränen für mich und hältst mich fest. Mein System fährt langsam runter, die Virenschutzprogramme werden durchlässiger und der Adblocker deaktiviert sich. Zum ersten Mal seit Jahren kommen hunderte Pop-ups auf einmal hoch und durchlaufen meine Blutbahnen. Meine Lippen beben, mein Muskeltonus nimmt langsam ab und die Tränen laufen schneller. Ich übergebe sie dir. Ich lasse sie hier bis nächstes Jahr und werde sie kein weiteres Mal mit nach Hause nehmen. Ich weiß, dass du gut auf sie aufpassen wirst.
Ich sinke immer tiefer in deinen Beschützerteich. Deine Umarmung ist warm, ich gebe mich ab. Ich gebe das „Ich“ ab, was ich als Kind kreiert habe, in dem Glauben, es wäre richtig so. Endlich erlaube ich mir, jemand anderes als das immer starke Mädchen zu sein, ohne, dass es meine Komfortzone in Gefahr bringt.
Ich bin schwach UND genug. Ich bin, also bin ich.
Im vollen Vertrauen lege ich mich auf den Rücken auf den unebenen Schotterweg und sauge das tiefe Blau des Himmels in mich ein. Er ist ein tolles Vorbild! So viele Wolken haben ihn schon verdeckt und ihn kurzseitig besetzt, aber sie sind immer wieder weitergezogen. Jede Wetterlage hat ihr ganz eigenes Potenzial, ihre eigene Kraft und Schönheit. Vielleicht ist das bei mir auch so…?
Weißt du was, Marmortulpe, wenn du eines Tages überlaufen solltest, dann trenn dich ruhig von meinem Anteil. Gib ihn dem Boden zurück, damit noch mehr Blumen wie du entstehen können, damit sie behutsam gegossen werden, damit noch mehr Platz für alte Tränen entstehen kann und genug Platz, dass andere Menschen auch wahlweise mal reinspucken können, wenn es sie erleichtert.
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