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AutorenbildRebecca von Faber

Auf unser Wiedersehen

Das Purpurrot der Abendsonne scheint dir ins Gesicht. Du bist einfach schön, wie du da sitzt, in meinem Strandkorb auf dem kleinen Balkon über den Dächern von Berlin. Ich habe dich so vermisst, Schwesterherz. Aus der Küche beobachte ich dich, wie du fast meditativ an deiner Zigarette ziehst und dir die Gemälde der Wolken am Himmel anschaust. Das hast du als Kind schon gemacht. Du warst immer die Fantasievollere von uns beiden. Ich weiß noch, dass ich dich damals immer um deine Träumkünste beneidet habe. Und um dein Mut.

Ich nehme die beiden Weißweingläser, öffne die Balkontür und komme zu dir. Du grinst mich frech an. Ich reiche dir eines der beiden Gläser und stoße behutsam mit dir an. „ Auf unser Wiedersehen."

Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich freue, dich nach all den Jahren wiederzusehen.

„Okay, erzähl mal, wo warst du überall?“

Du fängst an, zu berichten, aber ich kann dir nicht folgen. Ich nehme wahr, wie deine Lippen sich bewegen und was für eine unglaubliche Euphorie deine Augen transportieren. Es kommt mir vor, als würden meine symmetrisch angepflanzten Balkonblumen alle ihren Kopf in deine Richtung drehen, um deinen schönen Geschichten zu lauschen. In diesem Moment steht die Stadt für mich still, sie ist in den Hintergrund gerückt.


Ich muss lächeln und versuche, in deine Erzählung einzutauchen, obwohl ich den Anfang völlig versäumt habe. „Nächstes mal muss ich dich unbedingt mitnehmen!“ Ich nicke vor mich hin während ich dich mustere. Meine kleine Schwester Clara ist selbst so eine schöne Blume geworden.

„Ich freue mich so. Weißt du was, du hast mir gefehlt!“

„Du mir auch. Und es ist toll, wieder mit dir hier zu sein. Weißt du noch, wie ich nachts immer zu dir ins Bett gekrabbelt bin, weil ich alleine Angst hatte? Weißt du noch, wie du mir immer dieselbe Geschichte vorlesen musstest, damit ich schlafen konnte?“

Ja, du warst mein kleiner Stern. Ich hatte ja nur dich. Niemals habe ich jemanden so geliebt wie dich. Und jetzt, fast 30 Jahre später sitzen wir gemeinsam auf dem Balkon der Wohnung, in der wir groß geworden sind.

Ich setze mich neben dich in den Strandkorb mit den durchgesessenen Polstern und lege meinen Arm um dich. Dein Geruch gibt mir ein tiefes Gefühl von Heimat. Deine hellblaue Strickjacke ist genauso weich wie dein Herz. Gemeinsam sehen wir der Sonne dabei zu, wie sie majestätisch hinter den Hochhäusern der Stadt verschwindet. Wir schweigen und ich genieße die Stille. Sie öffnet den Raum für die Magie der anbrechenden Nacht. So lange habe ich auf den Moment gewartet, wieder hier mit

dir zu sitzen. Ich drehe meinen Kopf zu dir. Du erinnerst mich an unsere Mutter. Deine Gesichtszüge ähneln den ihren, wenn sie auf den Fotos glücklich war. Du hast den gleichen Leberfleck wie sie, an deinem rechten Nasenflügel. Du bist wunderschön.


Ein Regentropfen auf meiner Stirn nimmt platz in meinem Bewusstsein ein. Ich schrecke hoch. Schon wieder bin ich auf dem Palettensofa eingeschlafen, auf dem Balkon, wo früher der alte Strandkorb mit den durchgesessenen Polstern stand. Jedes Mal, wenn mir das passiert, träume ich von dir, Clara.

Ich lege es fast darauf an, um dir ab und zu begegnen zu können. Schließlich ist dein Unfall schon 30 Jahre her. Aber ich weiß, dass du mich immer begleitest. Wenn ich die Augen schließe, kann ich dich sehen, in der purpurroten Abendsonne mit einer Zigarette in der Hand und Mamas hellblauer

Strickjacke. Du bist so schön. Ich liebe dich, Clara.

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